Poetologie des Weimarer Kinos
Wie können die sehr unterschiedlichen Filme einer Epoche gemeinsam betrachtet werden? Kann eine Poetologie dieses Kinos identifiziert werden, die jenseits ideologischer Zuordnungen verläuft? Wie können Filme über die Zeit Auskunft geben, in der sie entstanden sind? Und warum sollte man im Film mehr oder anderes sehen können als bei der aufmerksamen Beobachtung des Alltags?
Diese Probleme werden von Kracauer über Deleuze bis hin zu Rancière diskutiert und entwickeln an einem immer wieder aufgegriffenen, konkreten Untersuchungsgegenstand – dem Weimarer Kino – eine theoretische Perspektive, in der die Frage nach dem Verhältnis von Filmen zu ihrer historischen Situierung als Frage nach einem (je spezifischen) filmischen Denken neu gestellt werden kann.
Der möblierte Mensch
Der möblierte Mensch unterzieht die Filme Georg Wilhelm Pabsts einer grundsätzlichen Relektüre, um ein zentrales Motiv der Ästhetik des Weimarer Kinos herauszuarbeiten und neu zu verstehen: die Utopie der Sachlichkeit.
Diese Utopie entwirft eine Kunst, in der das Geistige in der äußeren Wirklichkeit, das subjektive Empfinden in der Dinglichkeit der Alltagswelt begründet liegt. Die Widersprüche neusachlicher Ästhetik – zwischen Phantasma und äußerer Wirklichkeit, Gegenständlichkeit und konstruktivistischem Darstellungsideal – werden über detaillierte Filmanalysen als Poetologie des Weimarer Autorenkinos herausgearbeitet. Die Heterogenität des Weimarer Kinos – das Changieren zwischen melodramatischen, expressionistischen, realistischen, und phantastischen Stilelementen – wird über die verschiedenen Analysen der Filme G. W. Pabsts als ästhetische Form begriffen und eröffnet so eine poetologische Perspektive auf das spezifische ästhetische Bewusstsein dieser Epoche, das sich jenseits ideologischer Grenzziehungen entfaltet.
Das Denken in Bildern – nicht als intentionaler Gehalt, sondern als gedanklicher Prozess, dessen zeitliche Struktur in den Bildern selbst verortet ist – zeigt sich in der ästhetischen Konstruktion der Filme Pabsts. Sie weisen Verbindungen zur Eisensteinschen Montagetheorie, der Brechtschen Dramaturgie und dem Bühnenraumverständnis von Ihering auf. Als typisch für das Weimarer Kino erweist sich die Auflösung räumlich-figurativer Strukturen in einen Gegensatz von Licht und Schatten in einem dynamisierten Bildraum. Das gedankliche Zentrum des Weimarer Autorenkinos wird in Gilles Deleuzes „unendlichem Gegensatz“ des Helldunkels idealtypisch gefasst. Der Kamerablick kann mit Deleuze als eigenständiges, potentiell unbegrenztes kinematografisches Bewusstsein gefasst werden; das Sehen schlägt um in ästhetische Reflexivität. Das Denken in Bildern kann so als das Denken der Bilder verstanden werden, die sich des Zuschauers bemächtigen.
Im Anschluss an Deleuzes Theorie des Zeit- und Bewegungsbildes zielt Der möblierte Mensch auf eine Poetologie des Weimarer Kinos, die sich nicht mehr auf Werk- und Autorenkonzepte stützt. Vielmehr wurde versucht, die Filme des sogenannten Neuen Realismus als eine Resonanzfläche zu lesen, in der gegensätzliche Strebungen eines ästhetischen Denkens und dessen politische Implikationen greifbar werden. Dieses Spannungsverhältnis kann als die ästhetische Disposition des Weimarer Autorenkinos begriffen werden.
Weitere Informationen zum Buch: Der möblierte Mensch
"Saint-Avit endet seine Erzählung, sein gegenüber löscht die Ölfunzel; noch zwei Stunden bis zum Morgenappell, er wird in dieser Zeit den Brief schreiben. Sein Blick geht in die Weite vor ihm: die schimmernden Sanddünen, aus denen das Licht in dünnen Schleiern aufzusteigen scheint. [....]
ein Kameraschwenk, Saint-Avit kommt wieder ins Bild, ihm gegenüber, mit dem Rücken zur Kamera, der Tuareg. Jetzt erst sieht man, was Saint-Avit innehalten ließ, das schwarz verhüllte Gesicht. [...] Am Ende der Szene ein Bild - eingerahmt von dem Torbogen zeigt es die gleißend helle Ebene. Wir sehen die schwarze Gestalt davonreiten; Saint-Avit, er mag auf dieses Bild starren. Dann noch einmal das Bild im Torbogen, wie ein Prospekt, an der Festungsmauer angebracht: die sanften Wellenlinien der Sanddünen verlieren sich im Licht. Eine Großaufnahme zeigt Saint-Avit. Ganz langsam lösen sich seine Gesichtszüge.
Die Kamera gleitet in einer schnellen Bewegung über den Sand; man sieht Spuren in die feinkörnige Fläche eingedrückt. [...]
Im Fort macht sich ein Suchkommando auf den Weg. Man sieht den Trupp vor einem unabsehbar geweiteten Horizont ganz klein am unteren Bildrand verschwinden, dann die Soldaten auf ihren Kamelen im gestreckten Galopp die Sanddünen kreuzen. In dünnen Fahnen treibt der Sand über die Bodenwellen. Eine Musik setzt ein, inroniert die verzerrten Töne eines aufkommenden Sturms. Sie schwillt an - ein zaghaftes Heulen, ein Brausen, ein Toben. Dichte Schleier legen sich über das Bild. [...] Das geblähte Tuh über de Kopf festhaltend, steht der Offizier gegen den Wind gebeugt. Man sieht seine Gestalt am Bildrand - flatternde weißgraue Tücher. Man hört seine Stimme in den heulenden Tonkaskaden der Musik. Er ruft den Namen Saint-Avits. Die Kamera bewegt sich ein wenig noch weiter, das Bild geht über in ein flirrendes, feinkörniges Grau. Der Film endet wie die Rundfunksendung, er verliert sich in ein Rauschen.
Licht und Schatten lösen sich in eine Totale auf, die von vornherein in der leeren Weite des Raums, der inszenierten Stille gegeben war - auch das ist das Gleiten. Am Anfang zeigt das Bild der Wüste noch Konturen. […] Später dann sind es nur noch die Sanddünen, die hell schimmernde gewellte Fläche eines uferlosen Meeres, an der sich manchmal noch eine blasse Linie zeigt, der Horizont […]. Der Sandsturm löscht alle Gestalt, die Spur, die zurückführt in die unterirdische Stadt.
Die Herrin von Atlantis führt das Helldunkel in die rein abstrakte Figuration. Dessen Metamorphose über die weite Landschaft, die Schattenwelt der Höhle in das weiße Licht, löst den Gegensatz von Gut und Böse, Mensch und Natur, Sein und Schein in die Polaritäten der reinen Bildstruktur auf: Fläche, Linie – Schwarz und Weiß. Es läßt die Wahrnehmung das Figürliche, die Gestalt und die Gegenständlichkeit als Ergebnisse gedanklicher Operationen denken; es führt in dieses Denken. (S.221 f.)
Die Bildidee der Neuen Sachlichkeit
Eine neue Gegenständlichkeit – Die Bildidee der Neuen Sachlichkeit und der Film betrachtet die Neue Sachlichkeit nicht als stilgeschichtliche Epoche, sondern als ästhetische Disposition des Weimarer Kinos. Unabhängig von der jeweiligen spezifischen Ausprägung findet in allen avancierten Filmen der Epoche eine reflexive Erkundung der Bildlichkeit des Neuen Mediums statt, bei der eine neue Gegenständlichkeit im Zentrum steht.
„Die Kunst der neuen Sachlichkeit will einen eigenständigen Blick auf die Welt installieren, ein Sehen, dem die Interpretationsmuster menschlicher Wahrnehmung genommen sind: […] [das] poetische Konzept, das eine Wirklichkeit zur Darstellung bringen will, deren Bewusstsein noch aussteht.“ (S. 136)
(Eine neue Gegenständlichkeit – Die Bildidee der Neuen Sachlichkeit und der Film. In: Diesseits der >Dämonischen Leinwand<. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino. Herausgegeben von Thomas Koebner in Verbindung Norbert Grob und Bernd Kiefer. edition text + kritik, 2003)
Carl Mayer
Anhand des Drehbuchautors Carl Mayer, der im Weimarer Kino für seine kinematografischen Drehbücher einzigartige Prominenz als Autor erlangte, erörtert der Aufsatz Geschriebene Bewegungsbilder – Der Filmdichter Carl Mayer, wie in den Filmen der Neuen Sachlichkeit eine völlig neue Bildidee zum Vorschein kommt.
Carl Mayer verschreibt sich mit seinen Drehbüchern, in denen er primär filmästhetische Anweisungen gibt und die Beschreibung der Handlung zunehmend reduziert, der Untersuchung einer neuen kinematografischen Bildlichkeit. Er verwendet filmtechnische Anweisungen poetisierend und verwirklicht so die Bewegung des filmischen Bilds als sprachliche Anordnung. Carl Mayers Idee eines Films ohne Zwischentitel und sein Fokus auf ‚filmgemäßem‘ Erzählen lassen das Bild selbst in seiner Bewegtheit zu einer Artikulationsform von Zeit werden, und der Raum des kinematografischen Bildes entpuppt sich als gänzlich von Bewusstsein durchdrungene Welt.
Walter Benjamin
In Der Lesende im Kino. Allegorie, Fotografie und Film bei Walter Benjamin wird herausgearbeitet, inwiefern es nach Benjamin eines speziellen Rezeptionsmodus bedarf, um das Denken der Filme wahrzunehmen. Der Aufsatz spitzt Benjamins Verstrebung von Fotografie und Allegorie auf folgende These für das Kino zu: entweder die Zuschauer lernen es, die Bilder zu lesen, sie als Schrift zu erkennen, als zerebrale Verknüpfung intelligenter Sinne, mit denen gedankliche Operationen ausgeführt werden können – oder sie ergeben sich der Realität des Imaginärem, der Illusion.
Der Film tritt durch seine spezifische Gestaltung des Sehens und Hörens als eigene Bewusstseinsform in Erscheinung, die es ermöglicht, die Alltagswahrnehmung in den Modus der Schrift zu rücken. Durch diese ‚Literarisierung aller Lebensverhältnisse‘ wäre das Kino der Ort, an dem das gesellschaftliche Leben sich selber lesbar würde.
„Der Film lässt Wahrnehmbarkeiten und Hörbarkeiten auftauchen, die außerhalb der gegebenen Form unserer Wahrnehmung liegen. Das ist es, was für Benjamin den Film ausmacht, seine paradigmatische Stellung innerhalb der Ästhetik und sein intelligibles Potenzial: Das Kino gibt uns mit der Alltagswelt, der äußeren Wirklichkeit, der sozialen Realität den geistigen Kosmos eines ausstehenden Denkens, eines unausdenkbaren Lebens zu verstehen.“
(Der Lesende im Kino. Allegorie, Fotografie und Film bei Walter Benjamin. In: Die Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Moderne / Malte Hagener, Johann N. Schmidt, Michael Wedel (Hrsg.). - 1. Auflage - Berlin: Bertz + Fischer, 2004.)
Siegfried Kracauer
In Realität lesen. Das Kino und die Politik des Ästhetischen wird Siegfried Kracauers From Caligari to Hitler auf Grundlage des Rancièreschen Politikbegriffs einer Relektüre unterzogen. Wie sich soziale Wirklichkeit ästhetisch in den Film einschreibt und dort erst erkennbar wird, wird am Ende des Aufsatzes anhand einer Fassbinder-Analyse verdeutlicht.
Der Aufsatz beginnt mit Jacques Rancières „Politik des Ästhetischen“ (siehe auch Ästhetik und Politik audiovisueller Bilder): Der spezielle Politikbegriff Rancières stützt sich auf den ästhetischen Einspruch gegen die Begrenzungen der Alltagswahrnehmung. Kunst ist also bei Rancière per se eine kulturelle Praxis, die einer bis dahin unvernommenen Sinnlichkeit Raum bietet und so Einspruch mit dem Bestehenden artikuliert. Dem Film weist Ranciere dabei eine besondere Rolle zu, denn in ihm erfüllt sich das Programm der modernen Ästhetik: Alles, was das physisch-sinnliche Leben der Gemeinschaft ausmacht, alles, was sie fühlt, kann im Film unmittelbar Gedanke und alles, was sie denkt, kann unmittelbar Gefühl sein. Damit rekapituliert Rancière die Utopie der Anschaulichkeit des Sozialen der klassischen Filmtheorie.
Kracauers sichtet in seiner Arbeit an From Caligari to Hitler Filme der Weimarer Republik erneut im Hinblick auf die Frage, auf welche Weise sich in den Filmen dieser Epoche bereits die gesellschaftlichen Kräfte zu erkennen geben, die später zum Faschismus führen würden. Eine grundlegende Prämisse des Buches ist, dass solche Kräfte im Kino bereits sichtbar sind, bevor sie sich spürbar in der gesellschaftlichen Realität manifestieren. Dies hängt mit dem grundlegenden Perspektivwechsel zusammen, der in Kracauers Werk anklingt: das filmische Bild wird nicht als Abbild der sozialen Wirklichkeit, sonder als ein Medium verstanden, mit dem sich diese Wirklichkeit als ein physisch-sinnliches In-der-Welt-Sein erschließt. Verknappt lässt sich sagen, dass im Film das ‚innere Leben‘ der Gesellschaft, die soziale Wirklichkeit, an der Oberfläche sicht- und spürbar wird: in den Haltungen und Gesten der Figuren, in den Räumen, in denen Figuren zueinander in Beziehung gesetzt werden.
(Realität lesen. Das Kino und die Politik des Ästhetischen. In: Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino. Hrsg. Doris Kern und Sabine Nessel, Frankfurt a.M. 2008)
Ein Beispiel für die spezifische Denkweise Kracauers – das Erkennbarwerden sozialer Realität in Gesten oder Räumen eines Films ‑ entstammt dem Caligari-Buch. Dort heißt es über eine Szene aus dem G.W. Pabst-Film Kameradschaft (Deutschland 1931):
„Mit Kameradschaft fand Pabst wieder zur eigenen Linie. Sein angeborener Sinn für Realität setzt sich eindrucksvoll in der Duschraum-Episode durch. Das Wasser aus den Duschen sprüht durch den ganzen Raum und umhüllt die nackten Bergleute wie auch die Reihen von Kleidern, die von der hohen Decke herabhängen wie geisterhafte Tierkadaver über den glänzend eingeseiften menschlichen Körpern. Nichts scheint in dieser Episode inszeniert zu sein, ja, das Publikum wird in einen Arkanbereich des Alltags eingelassen. Die im Studio nachgebaute Zeche liefert die völlige Illusion eines Gesteins unter Tage. Ernö Metzner, für die Bauten verantwortlich, bemerkte, daß Dokumentaraufnahmen eines wirklichen Grubenunglücks kaum einen überzeugenden Eindruck davon gegeben hätten. >Für diesen Fall kam die Natur als Modell fürs Studio nicht in Frage.< Schreckliche Realität ist von dem Schein, mit dem sie unsere Einbildung umgibt, unablösbar.“ Kracauer: Von Caligari zu Hitler, S. 253.)