Ästhetik und Politik audiovisueller Bilder
Was heißt es, wenn wir im Film die Welt aus anderen (kinematografischen) Augen sehen? – Filme entfalten in ihrer Dauer eine spezifische Sinnlichkeit – ein bestimmte Art zu sehen, zu hören, zu empfinden –, die vom alltäglichen Wahrnehmungsmodus abweicht. Mit dieser konkreten audiovisuellen Sinnlichkeit filmischer Bilder ist die Hoffnung verbunden, Film könne die gesellschaftlichen, historischen und medialen Bedingungen der alltäglichen Erfahrbarkeit der Welt selbst erfahrbar machen. Erst durch diese Möglichkeit, die gesellschaftlich geteilten Ordnungen der Wahrnehmung zu erfahren, kann der Einzelne in Auseinandersetzung mit ihnen treten und aus der filmischen Erfahrung heraus Einspruch (im Sinne Rancières) gegen die Ordnung einer bestehenden Wahrnehmungswelt erheben. Ästhetik und Politik des Films sind so aufs engste miteinander verschaltet.
Das Kino und die Politik des Ästhetischen
Realismus: das Kino und die Politik des Ästhetischen untersucht diese Verschränkung von Ästhetik und Politik, findet ihren Ursprung in den ästhetischen Utopien der zwanziger Jahre und analysiert anhand konkreter Filme (von Visconti über Fassbinder bis hin zu Kubrick, Friedkin und Almodóvar) ihre Aktualität im westlichen Kino nach 1945.
Aus der Begegnung von Film und Avantgarde – etwa im Werk Sergej Eisensteins oder im ästhetischen Programm der Neuen Sachlichkeit im Weimarer Kino – erwuchs die Vorstellung, dass das neue Medium die (realen oder zu schaffenden) Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens als leibhaftiges In-der-Welt-Sein erfahrbar machen könne.
Die Diskreditierung der Idee des Massenmediums durch die Erfahrungen des zweiten Weltkriegs wurde nach 1945 durch Siegfried Kracauer und André Bazin mit einer filmtheoretischen Wende beantwortet: entgegen der Mobilisierung einer kollektiven Existenz im Kino der Avantgarde wird Film wird nun als Möglichkeit gesehen, dem individuell angesprochenen Zuschauer eine Anschauung der sozialen Wirklichkeit zu bieten, die als Handlungsspielraum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen verloren gegangen ist. Die ästhetische Utopie der Avantgarden wird transformiert und kann als neue Realismusform begriffen werden. Die Bildräume des Kinos erschließen die äußere Wirklichkeit als ein Feld möglicher Erfahrung sozialer Realität. Der Begriff ‚Realismus‘ verweist in diesem Sinne nicht auf ein Entsprechungsverhältnis zur Alltagserfahrung, sondern auf die Erfahrbarkeit sozialer Ordnungen im individuellen Empfinden. Mit Bezug auf Jacques Rancière entfaltet sich so die politische Dimension der Ästhetik audiovisueller Bilder: Indem Filme eine Wahrnehmung von sozialen Ordnungen und nicht innerhalb sozialer Ordnungen sind, können sie ein Einspruch gegen die ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ sein.
Weitere Informationen zum Buch: Realismus: das Kino und die Politik des Ästhetischen.
Die Sinnlichkeit einer anderen Zeit
Eine Analyse von Luchino Viscontis La Caduta degli Dei in Realismus: das Kino und die Politik des Ästhetischen zeigt, wie Geschichte als fast ungreifbare ästhetische Raumveränderung inszeniert werden kann – Film als Erfahrung der Sinnlichkeit einer vergangenen Zeit, welche als eine verlorene Möglichkeit von Geschichte verstanden wird.
Die Filme Viscontis entfalten eine Welt, von der der Zuschauer radikal ausgeschlossen ist. Und doch nimmt er in seinem ästhetischen Wahrnehmungserleben, im Erleben der Schönheit der Dinge und Menschen des Films, Anteil an dieser Sinnlichkeit. In diesem ästhetischen Erleben tritt der Zuschauer in eine enge Beziehung zu den Protagonisten der Filme Viscontis.
Eine detaillierte Analyse zu Luchino Viscontis Historienfilmen ist als multimediale Online-Publikation Visconti: die Sinnlichkeit einer anderen Zeit abrufbar.
Gesellschaftsanalyse als ästhetische Zuschauererfahrung
Unterzieht man – wie in The Distribution of Emotions: Fassbinder and the Politics of Aesthetics – die Werke des frühen Rainer Werner Fassbinder einer Relektüre, die sich auf die Erfahrbarkeit von sozialen Ordnungen fokussiert, zeigt sich vor allem in der Inszenierung der Gruppe, wie die persönlichen Beziehungen der Figuren und gesellschaftliche Machtstrukturen einander spiegeln. Die intellektuelle Gesellschafts-Analyse wird zu einer ästhetischen Zuschauererfahrung.
Ausführliche Analysen zu Rainer Werner Fassbinders Filmen und dem sie auszeichnenden spezifischen Schauspielstil, der den Brechtschen sozialen Gestus auf die melodramatische Spielweise des Hollywoodfilms bezieht, sind als multimediale Online-Publikation Nach '68 - Politik der Form (R. W. Fassbinder) abrufbar.
Literaturverweise:
The Distribution of Emotions: Fassbinder and the Politics of Aesthetics.In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 86:3, 2011. - S. 201-220
(Siehe auch: "Ein Denken, das unmittelbar Gefühl, und ein Fühlen, das..." Utopie Film: R.W. Fassbinder und die Frage nach einer "Politik der Form". In: Das Streit-Bild. Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière / Drehli Robnik, Thomas Hübel, Siegfried Mattl (Hrsg.). - 1. Auflage. – Wien / Berlin: Turia + Kant, 2010. - S.161-176.)
“[…]the beginning of Warnung vor einer heiligen Nutte, or more precisely, the first fifteen minutes of the film, is an appropriate place to trace the directorial operations that position the image of the group as a form of media perception.[…]
We see Fassbinder in the role of the production director Sascha and Scheydt as the producer Manfred. Sascha screams into the telephone while Manfred watches him. Once again, the sight lines meet at a right angle. In what follows, these geometrical figures are repeated in ever new variations: two intertwining gazes form a line that is cut at a right angle by a gaze from outside; then this arrangement is repeated within the shot. […]
The succession of the sight lines, related to one another in strict angles, articulates a tension that soon turns out to be a disharmonious network. One person gazes intently at another, who in turn remains unaware of being looked at. This is followed by characters whose walking transforms this tension into axes of movement, which are again arranged following the same principle: sometimes they cut one another at dynamic right angles, and sometimes they meet in direct opposition like the intertwined gazes; while sometimes they continue each other as in a relay race. There is no master shot, no preconceived space. Instead, a movement image is gradually assembled: loosely attached frames, individual characters, couples in conversation—all connect with each other by the arrangement of the lines of sight and the lines of movement created by people walking.
Finally, the movement of the camera contributes the last element. It initially follows the characters walking, only to develop a movement of its own soon thereafter, which gives it enormous presence. Even before a space of action becomes perceivable to the spectator, the diagram of a network of relationships has been set up.”
(Auszug aus The Distribution of Emotions: Fassbinder and the Politics of Emotions)
Eine neue Empfindsamkeit
In Film-Konzepte #9 zu Pedro Almodóvar setzen sich verschiedene AutorInnen mit der (im Sinne Rancières) politischen Dimension des Werkes auseinander: Welche Positionen von Subjektivität und Weltbezüglichkeit lassen sich mit den Filmen Almodóvars denken? Welche bislang unvernommene Sinnlichkeit wird in ihnen artikuliert?
Anhand verschiedener Filme Pedro Almodóvars – als einem Vertreter einer neuen Empfindsamkeit des westlichen (Autoren-)Kinos – zeigt sich, wie es dem Regisseur gelingt, einerseits regionale historische Erfahrungen und kulturelle Traditionen aufzugreifen, diese aber andererseits auch über ihren konkreten kulturellen Kontext hinauszuführen.
In dem Aufsatz Der Auszug aus Bernada Albas Haus wird herausgearbeitet, wie Almodóvar eine einzelne Binnenperspektive, eine Ich-Perspektive, auflöst und (weibliche) Subjektivität stattdessen über einen permanenten Perspektivwechsel, eine Art kinematografischen Kubismus, konstruiert.
Diese detaillierte Studie zu Pedro Almodóvar ist als multimediale Online-Publikation Pedro Almodóvar: Eine neue Empfindsamkeit abrufbar.
Weiter Informationen zum Buch: Pedro Almodóvar