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Zuschauergefühl und Affektpoetiken

Wie affizieren uns audiovisuelle Medien (insbesondere Film)? Was lässt uns weinen, lachen oder erschaudern? ‑ In der Gestaltung expressiver Bewegungsmuster (Ausdrucksbewegungen) können audiovisuelle Medien über ihre ästhetische Gestaltung Stimmungen, Atmosphären und Gefühle als affektive und körperliche Reaktion bei den Zuschauern hervorrufen. Aus dieser Annahme heraus eröffnet sich eine spezifische Perspektive auf audiovisuelle Medien, die die Grundlage für verschiedene Forschungsschwerpunkte bildet: Meaning Making und Embodiment, Ästhetik und Politik audiovisueller Bilder, Gemeinsinn, Genre und Geschichte, sowie zur Poetologie des Weimarer Kinos.

Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit

Die Monographie Matrix der Gefühle, als Habilitationsschrift verfasst, geht der Frage nach, wie es kommt, dass wir im Kinosaal weinen. Zur Beantwortung dieser Frage sucht die Studie das Melodramatische als einen spezifischen Modus kinematografischer Expressivität zu beschreiben. Das Buch ist in drei Abschnitte untergliedert, die das Phänomen des mit dem Melodrama assoziierten sentimentalen Genießens aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten: genealogisch, phänomenologisch und in Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Filmtheorie. Die Untersuchung spannt dabei einen Bogen vom Theater der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts bis zum zeitgenössischen Hollywoodfilm.
Was dabei als übergreifendes Prinzip in den Blick kommt, ist die Modulierung der Zuschauergefühle mittels der Gestaltung der Zeit ihres konkreten Erlebens. Das filmische Bild wird, wie die Bühne der Empfindsamkeit, selbst zu einem Gesicht: einem Ganzen, das eine Verwandlung durchläuft und damit eine Dauer konstituiert. Der Begriff der Ausdrucksbewegung bezeichnet eben jenen Vorgang, dessen eine Seite die sichtbare Bewegung des Bildes (der Figuren, der Kamera, etc.) darstellt und dessen andere Seite vom Publikum innerlich vollzogen wird: der dunkle Zuschauerraum als Matrix der Gefühle.

Weitere Informationen zum Buch: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit

Eine exemplarische Analyse aus Matrix der Gefühle von Magnificent Obsession (Douglas Sirk, USA 1954) wurde im Rahmen des eLearning-Projekts Bildräume audiovisuell aufbereitet und veranschaulicht, wie das synästhetische Gewebe von gestischem Spiel, Dekor, Farbe, Musik, Montage und Kamerabewegungen als kinematographische Ausdrucksbewegung begriffen und analysiert werden kann.

Die vierte Dimension des Bewegungsbildes

In Ausdrucksbewegung und Zuschauerempfinden, sowie Die vierte Dimension des Bewegungsbildes werden in Bezugnahme auf die Montagetheorie Sergej Eisensteins die unterschiedlichen Ebenen kinematografischer Bewegung untersucht und ausdifferenziert.
Jenseits von Repräsentation und räumlicher Figuration geht es vor allem um die Bewegung, die den Film als Ganzes durchzieht: das Entrollen, Entfalten, Enthüllen der je besonderen Wahrnehmungswelt des einzelnen Films in der Gegenwart einer leibhaften Wahrnehmung des Zuschauers. Als wahrnehmendes, denkendes und empfindendes Subjekt realisiert der Zuschauer so Film als Intensitätsverkettung.
Der Film, als Wahrnehmungsdispositiv gefasst, wird zu einer verkörperten Wirklichkeit, einer leibhaft-psychischen Realität – die nicht die des Zuschauers ist. Die titelgebende vierte Dimension bezeichnet die Zeit, in der sich der Film in der Wahrnehmung des Zuschauers als eine Welt enthüllt, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Eine Welt, deren Sinnlichkeit und deren Empfindungsweisen sich grundsätzlich von denen unserer alltäglichen Weltwahrnehmung unterscheiden.

Literaturverweise:
Ausdrucksbewegung und Zuschauerempfinden: Eisensteins Konzept des Bewegungsbildes.
In: Synchronisierung der Künste/Robin Curtis, Gertrud Koch, Marc Siegel (Hrsg.). – 1. Auflage. – München, 2013. – S. 73-84
Die vierte Dimension des Bewegungsbildes. Das filmische Bild im Übergang zwischen individueller Leiblichkeit und kultureller Fantasie. In: Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote / Anne Bartsch, Jens Eder, Kathrin Fahlenbrach (Hrsg.). - 1.Auflage. - Köln: Halem, 2007. - S.297-311

Ausschnitt aus Jezebel. Regie: William Wyler, USA 1938.

Konkret auf eine Szene aus Jezebel bezogen entsteht für den Zuschauer im Laufe des Films eine Welt, die über ihre Sinnlichkeit eine Opposition der Bewegungsqualitäten von Herr/Knecht, Mann/Frau, Sklave/Bürger etabliert. In der Wahrnehmung des Zuschauers ist die Protagonistin das Bindeglied zwischen diesen Polen, denn „[i]n ihr verlangt die Beweglichkeit der Sklaven und die Kraft der Pferde ihren Platz in der ‚guten Gesellschaft‘“.

„In ihrem Reitkostüm, ihrem federgeschmückten Hut, dem durch die Wendungen und Drehungen forcierten Gang ist Julie mit ihrem ersten Erscheinen als das dynamische Kraftzentrum eingeführt, das mit der Wildheit des Pferdes assoziiert wird. Im strengen Gegensatz zum Auftritt Julies steht die Ankunft der Gäste, die unmittelbar zuvor zu sehen ist: Der Bewegungsradius dieser Festgesellschaft wirkt so eingeschränkt wie der von Julie expansiv.“

Motion und Emotion

Die vertiefte Eisenstein-Lektüre in Die Anschaulichkeit des Sozialen und die Utopie Film verdeutlicht, dass für diesen der Übergang vom Leinwandbild zur Wahrnehmung des Publikums nur eine weitere Stufe in der Entfaltung einer einzigen Bewegung darstellt, die sich im kinematografischen Bild in dialektischen Sprüngen vollzieht – also direkt von der Motion zur E-motion führt. Die emotionale Antwort der Zuschauer selbst ist also noch Teil der im Film montierten Bewegungen; die Montage kann damit als Kopplung gegensätzlicher Ausdrucksbewegungen gefasst werden, die in sich die jeweils spezifischen Affektantworten der Zuschauer miteinschließt.

Literaturverweise:
Die Anschaulichkeit des Sozialen und die Utopie Film. Eisensteins Theorie des Bewegungsbildes. In: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt / G. Boehm (Hrsg.). - 1.Auflage. - München: Wilhelm Fink, 2008. - S.301-321

Bildräume, Eisensteins Montage der Filmabstraktionen, Teil 2: Dialektisches Bewegungsprinzip.

Im Rahmen des eLearning-Projekts Bildräume wurde eine 5-teilige Videolektion zu Eisensteins Montage-Theorie hergestellt.

Film und Gesicht – Film als Gesicht

Die besondere Beziehung zwischen Gesicht und Filmbild hinsichtlich ihres Potentials, den Betrachter emotional zu bewegen, wird in dem Aufsatz Bühne der Empfindungen, Leinwand der Emotionen - das bürgerliche Gesicht aus dem mit Helga Gläser und Bernhard Groß gemeinsam herausgegebenen Sammelband Blick, Macht, Gesicht vertieft: Von den Totenmasken des alten Ägypten über die Portraits der holländischen Malerei des 15. Jahrhunderts und die Schauspieltheorie Diderots des 18. Jahrhunderts, bis hin zum Gesicht auf der Kinoleinwand entfaltet sich eine Idee davon, welche besondere Rolle das Gesicht als Medium von Empfindsamkeit und Empfindung einnimmt.
Denn in ihm fallen Ausdrucksbewegung (Mimik) und Empfindungsbewegung des Zuschauers zusammen: Ein Gesicht zu lesen ist nur in Bezug auf die eigene Körperlichkeit möglich.
Mit Belà Balázs und Gilles Deleuze wird das Gesicht zum Paradigma des kinematografischen Bildes: Die Bewegungen auf der Leinwand gleichen den mimischen Bewegungen des Gesichts, und das Kino wird zum Raum der künstlich erzeugten Affekte, der technisch animierten Seele.

Weitere Informationen zum Buch: Blick Macht Gesicht

Ausschnitt aus The Thin Red Line. Regie: Andrew Marton, USA 1964.

"The Thin Red Line ist dieses von Gesicht zu Gesicht überspringende, sich fortsetzende, fassungslose Staunen, das sich fortsetzt in den vom Wind getriebenen Wolkenschatten und dem blitzenden Licht, das durch die Urwaldgewächse bricht. Es bekundet sich als Bewegung, in der sich das Wogen des Grases, das Gleiten der Schatten und das im Blattwerk zersplitternde Licht mit dem sich weitenden und verengenden, mal schreitenden, dann fließenden Klangteppich der Filmmusik verbindet: eine raumlose Bewegung [des Affekts], die von den anonymisierten Gesichtern gegliedert wird wie ein homerischer Epos vom Versmaß. [...] Es ist der Raum der Empfindungen des Zuschauers, seines sinnlichen, affektiven und libidinösen Verwobenseins mit der Welt. Das Aggregat dieses affektiven Weltbezugs ist für uns in der westlichen Kultur das Gesicht."

Das überwältigend große Gesicht der Leinwand

Aus einer psychoanalytischen Perspektive heraus, die in Der Film: Ein Text, ein Bild, ein Objekt entfaltet wird, ist die Verbindung von Film und Gesicht ebenso zentral dafür, wie Filmzuschauer affiziert werden.
Insbesondere bei der Wahrnehmung der affektiven Sensationen einer Großaufnahme, sieht sich der Zuschauer als ohnmächtiges Individuum einem überwältigend großen Gesicht auf der Leinwand gegenübergestellt und durch die Proportionen in ein Nähe-Verhältnis verschoben, das unmittelbar die mise en abîme der Empfindungen zwischen Säugling und Mutter nachzubilden scheint.
Das Gesicht ist dabei kein Text und doch eine ‚Botschaft‘, die sich in der physischen Wirkung, in der mimetischen Symptombildung des Gesichts am anderen hervorbringt. Das Gesicht konstituiert den Innenraum des Subjekts als ein körperliches Symptom, das immer schon da ist, als eine Frühzeit des Selbst, dem das Selbstbewusstsein als eine spätere ‚Übersetzung‘ folgt.

Das Empfinden des Rezipienten verhält sich wie der Träumende, es findet in jedem Detail der Wahrnehmung, in jedem Element der Darstellung eine vorübergehende Behausung. Die symbiotische Verschmelzung des Zuschauers mit den Filmbildern und ihrer Bewegung basiert auf einer mimetischen und affektiven Lesart des Films, die sich als kontinuierlicher Übergang zwischen der inneren und der äußeren Realität, zwischen den materiellen und den psychischen Dingen beschreiben lässt.

Literaturverweis:
Der Film: Ein Text, ein Bild, ein Objekt. Zur psychoanalytischen Theorie des Zuschauers. In: Texte zur Kunst, Heft 68, Dezember 2007. - Berlin 2007.