Springe direkt zu Inhalt

Gemeinsinn, Genre und Geschichte

Die Forschungen zu „Zuschauergefühl und Affektpoetiken" und "Ästhetik und Politik audiovisueller Bilder" verbinden sich in der Untersuchung  von Filmen, Genres und nationalen Kinematographien als Erzeugern von Gemeinsinn: Filme verhandeln, so die grundlegende These, Möglichkeiten und Sinn des Gemeinsam-Seins, indem sie zugleich das ästhetische Empfinden und das historische Bewusstsein der Zuschauer adressieren.

Genre und Gemeinschaft

Im Unterschied zu bisherigen Genretheorien werden filmische Gattungen aus dieser Perspektive nicht als etabliertes, übergeordnetes Set verschiedener inhaltlicher Merkmale oder motivischer Konventionen begriffen. Genres entstehen vielmehr rein aus dem Verhältnis konkreter Filme zueinander:
Sie zielen darauf ab, Gegenwart und Geschichte einer politischen Gemeinschaft durch ein gemeinschaftlich geteiltes Wahrnehmen und Bewerten überhaupt erst herzustellen. Sei diese Gemeinschaft eine Nation, eine ethnische oder politisch definierte Gruppe oder ein weitläufig geteiltes Kulturverständnis – Genres beziehen sich auf kollektiv geteilte Emotionen und verorten den Zuschauer im gemeinsamen Bezug auf eine Empfindungswelt.
Damit werden Genres nicht als Filmstangenware betrachtet, die zwangsläufig Bestehendes zementiert, sondern als dynamische Kommunikationssysteme, die Grundfragen der Gesellschaft kontinuierlich und in Variationen neu stellen.

Zu diesem Thema ist die Monografie Genre und Gemeinsinn erschienen.

Genres als dynamische Kommunikationssysteme

In Film Genre and Modality. The Incestuous Nature of Genre Exemplified by the War Film (gemeinsam mit Matthias Grotkopp) findet die Frage, wie Genremodalitäten (in Rückgriff auf den Ansatz von Christine Gledhill) gefasst werden können, ihren Ausgang in einer Initiationsszene aus dem Kriegsfilm Gung Ho!. Genres werden nicht als statische Schubladen betrachtet, sondern als dynamische Kommunikationssysteme, als unterschiedliche Weisen, Welt zu erfahren. Dabei können verschiedene Genremodalitäten in unterschiedlichen Gewichtungen innerhalb eines Films zum Einsatz kommen. Die Beispielszene aus Gung Ho! kann paradigmatisch dafür gelesen werden, wie das Kriegsfilmgenre verschiedene Genremodalitäten in sich vereint.

Literaturverweis:
Film Genre and Modality. The Incestuous Nature of Genre Exemplified by the War Film. (Verfasst von Matthias Grotkopp und Hermann Kappelhoff ). In: In Praise of Cinematic Bastardy/ Sébastien Lefait, Philippe Ortoli (Hrsg.). – 1. Auflage. – Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2012. – S. 29-39.

Ausschnitt aus Gung Ho!. Regie: Ray Enright, USA 1943.

„What do the characters in the first sequence of Gung Ho! represent? They are certainly not simply the stereotypical characters of the genre. Neither can their descent be simply processed as narrative information. They cannot be fully appreciated by a taxonomic approach […].
[T]he recruits represent modalities of experience and not ‘dramatis personae.’ They carry with them ways of behaving, ways of using the human body, ways of inhabiting space and time, and ways of getting emotionally involved. The war film is above all a propagandistic effort: ‘The tools of the cinema are employed to manipulate viewers into various emotional, cultural, and intellectual attitudes‘[Basinger 2003, S.57]. It addresses its spectators by offering them docking sites that constitute a common ground of emotional participation, a world they are familiar with, a world in which they are located.
The war film inserts itself into the existing genre system, not only as a tool for organising studio production and audience reception, but as a system of communication by which a society constitutes its values and its identity.“ (Film Genre and Modality. The Incestuous Nature of Genre Exemplified by the War ,S.30f.)

Mobilisierung der Sinne

Paradigmatisch für eine solche Funktion von Genre-Systemen als gesellschaftliche Emotions-Maschinen ist der Hollywood-Kriegsfilm, der grundlegende Fragen der Gemeinschaftlichkeit mittels spezifischer Affektdramaturgien verhandelt.
Im Mittelpunkt der Untersuchung des Kriegsfilmgenres im Sammelband Mobilisierung der Sinne steht die Frage nach Gemeinschaftsgefühlen, die Individuen in die Idee und Werte einer Gesellschaft einbinden. Diese Mobilisierung der Sinne der Zuschauer, die über die Hollywood-Kriegsfilme hergestellt wird, verbindet das konkrete Selbsterleben der Zuschauer während der Filmrezeption mit einer abstrakten Idee von Gemeinschaft. Der Krieg im Spiegel des Genrekinos – also die Verbindung des Pathos des Hollywoodfilms mit der historischen Erfahrung des Krieges – bezeichnet eine kulturelle Phantasie, die primär ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt (und weniger eine Modulation der moralisch-politischen Einstellung des Einzelnen). Der im Sammelband enthaltene Aufsatz Der Krieg im Spiegel des Genrekinos: John Fords They Were Expendable erläutert und veranschaulicht die in den folgenden Forschungsprojekten entwickelten Forschungsmethoden anhand eines konkreten Filmbeispiels.

Weiter Informationen zum Buch: Mobilisierung der Sinne

Ausschnitt aus They Were Expendable. Regie: John Ford, USA 1945.

Die Musik und Kameraeinstellungen, in denen die Weite des Horizonts dominiert, sowie die harmonische Rhythmisierung der Bewegungen von Kamera und Booten stellen bereits die allerersten Bilder des Films in einen Modus, der auch die Western John Fords auszeichnet. [...] Diese erste Szene des Films führt den Zuschauer in die rein sinnlich assoziierte Imagination eines exterritorialen Vorpostens der amerikanischen Nation ein - es braucht nicht viel Phantasie, um sich Pferde und Trompetensignale hinzuzudenken und das spritzende Wasser in aufgewirbelten Staub zu verwandeln. Folgerichtig tritt zu dieser Imagination zugleich die Behäbigkeit der Generalität in der Statik des Appells hinzu: Die technologisch verstärkte und kinematografisch choreographierte Omnipotenzerfahrung kommt mit dem langsamen Einlaufen der Boote in den Hafen schlagartig zum Erliegen, und die Besatzung wird für die Generäle in weißer Paradeuniform aufgereiht. [...] (Mobilisierung der Sinne, S.206 f)

Inszenierungen des Bildes vom Krieg

Das Forschungsprojekt „Affektmobilisierung und Kriegsinszenierung“ (2008 – 2011 Exzellenzcluster Languages of Emotion, Freie Universität Berlin, Leitung: Hermann Kappelhoff) und das Folgeprojekt  „Inszenierungen des Bildes vom Krieg als Medialität des Gemeinschaftserlebens“ (seit 2011, DFG-gefördert, Freie Universität Berlin, Leitung: Hermann Kappelhoff) widmen sich der Untersuchung des Hollywood-Kriegsfilmgenres hinsichtlich seiner ästhetischen Strategien der Emotionalisierung – sie gehen also der Frage nach, mit welchen audiovisuellen Inszenierungsverfahren Zuschauer affiziert werden. Im Zentrum stehen dabei zentrale pathetische Bildkomplexe, die sich mit Variationen in den verschiedenen Filmen wiederholen. Über die Analyse dieser zentralen narrativen Konstellationen, ästhetischen Strategien und Affektbereiche konnte ein Set von acht Pathosszenen etabliert werden, die das emotionale Spektrum ausfächern, in dem sich die Filme des Genres ansiedeln.

Der umfangreiche, weiter anwachsende Datenkorpus ist in der Datenmatrix des Projektes online einseh- und nutzbar. Hier finden sich zahlreiche systematische Analysen verschiedener Kriegsfilme.

Militär, Gesellschaft und Individuum

Wie unterschiedlich das Verhältnis von Militär, Gesellschaft und Individuum inszeniert werden kann, zeigt sich in der vergleichenden Onlinepublikation Kriegerische Mobilisierung: Die mediale Organisation des Gemeinsinns und im Aufsatz Affektmobilisierung und mediale Kriegsinszenierung, in denen Frank Capras WHY WE FIGHT-Filme mit Leni Riefenstahls TAG DER FREIHEIT – UNSERE WEHRMACHT kontrastiert werden. Die beiden Propagandaformate bedienen sich sehr unterschiedlicher Strategien der Emotionalisierung, mit denen sie auf ihr Publikum einwirken und sehr unterschiedliche Ideen von Gemeinschaft bewerben.

„Capra und Riefenstahl propagieren jeweils ein Gemeinschaftsideal, das gegensätzlicher nicht ausgerichtet sein könnte. Und dieser Gegensatz wird in den unterschiedlichen Inszenierungsweisen greifbar. Riefenstahl nutzt die avantgardistische Montagekunst, um eine homogene Wahrnehmungsperspektive zu konstruieren, die die Zuschauer teilhaben lässt an den Inszenierungen heroischer Staatsmacht: Sie lässt die Zuschauer teilhaben an dem Blick der Führer, die, auf dem Feldherrnhügel thronend, den Krieg als Schauspiel und die Vernichtung der Einzelnen als Geburt einer neuen Volksgemeinschaft genießen können. Capra hingegen vervielfältigt Perspektiven und Standpunkte, indem er die Montage nutzt, um höchst heterogene Darstellungsmodi des Kinos gegeneinander zu setzen: Jeder dieser Modi [bietet] eine andere Perspektive, eine andere affektive Haltung zur Welt: die Assoziationsmontage, die Querschnittsmontage, der Modus des Melodramas und jener des Gangsterfilms.
Diese Vervielfältigung der Perspektiven konfrontiert die heroische Selbstinszenierung des faschistischen Staates mit dem Streit gegenläufiger subjektiver Haltungen und affektiver Stellungnahmen. Capra nutzt die Darstellungsmodi des Kinos, um in den feindlichen Propagandafilmen deren Gemeinschaftsideal offenzulegen und im selben Zug das moralische Urteilen seiner Zeitgenossen und damit deren Gemeinschaftsgefühl zu mobilisieren.“ (Kappelhoff, Hermann: Affektmobilisierung und mediale Kriegsinszenierung. In: Gunter Gebauer / Markus Edler: Sprachen der Emotion: Kultur, Kunst, Gesellschaft.  2014, im Druck)

Stills aus TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT, Leni Riefenstahl, Deutschland 1935

Stills aus TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT, Leni Riefenstahl, Deutschland 1935

Moralische Gefühle im jüngeren Kriegsfilm

Sense of Community: Die filmische Komposition eines moralischen Gefühls veranschaulicht anhand zweier filmanalytischer Skizzen von Saving Private Ryan und Windtalkers, wie auch jüngere Hollywoodkriegsfilme über ihre ästhetische Gestaltung affektive Bindungen an ein übergreifendes politisches Gemeinschaftsideal modellieren.
Saving Private Ryan führt die Kriegsdarstellung in seiner letzten Szene zurück in die Urszene sentimentaler Unterhaltungskultur, bei der sich die Familie um das Sterbebett versammelt und zu einer Gemeinschaft des gleichgerichteten Empfindens und Fühlens verschmilzt.

Ausschnitt aus Saving Private Ryan. Regie: Steven Spielberg, USA 1998.

„Tatsächlich tritt noch die Familie des Soldaten Ryan, im Hintergrund des Bildes als Halbkreis positioniert, dem Kinozuschauer als eine Gemeinschaft gegenüber, die ihn buchstäblich in ihren Kreis aufnimmt; sind sie doch verbunden durch den geteilten Blick auf ein und dieselbe Szene des Weinenden am Grab – so als schließe sich mit den Blicken des anonymen Publikums vor der Leinwand der Kreis der Gemeinschaft um das trauernde Gesicht. Die Montage löst mit einem Achsensprung die Figuration auf, um sie in einer kreisenden Einstellungsabfolge fest mit dem Symbol der Nation zu verbinden: Die Flagge der Vereinigten Staaten.“
»Sense of Community«: Die filmische Komposition eines moralischen Gefühls. In: Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert/ Søren R. Fauth, Kasper Green Krejberg, Jan Süselbeck (Hrsg.). – 1. Auflage. – Göttingen, 2012. S.48f.

Kulturelle Phantasiearbeit im Kriegsfilm

Der Funktion des Bildes vom Leiden des Soldaten wird in Shell shocked face: Einige Überlegungen zur rituellen Funktion des US-amerikanischen Kriegsfilms anhand einer Betrachtung von Kriegsfilmen quer durch die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Ökonomie kultureller Phantasiearbeit nachgegangen.
Dabei geht es sowohl um das Genießen des Zuschauers im Kino, das dem ritualisierten Kinobesuch zugrunde liegt, als auch um die Pathosformeln des klassischen Kriegsfilms und ihre Ausprägungen im zeitgenössischen Kino.

„Man könnte sagen, der Film [Windtalkers] spiegelt den Mythos von der Geburt der Nation in einer melodramatischen Figuration des Kriegsfilms. Anders als bei Spielberg ist es keine verinnerlichende, sondern eine ironische Spiegelung. Sie zielt auf den Modus der Rede vom Krieg: die Erzählung vom Krieg der Rassen, dem Kampf der Kulturen, dem sich ständig verschiebenden Frontverlauf des Fremden. In der Verschmelzung der rhetorischen Elemente von Western und Actionkino mit denen des Melodramas wird diese Front in den Raum des ästhetischen Erlebens der Zuschauer verlegt: Dieser Raum umgreift sein Hören und Sehen, lässt ihn Teil einer kulturellen Fusion werden, die nicht nur Indianer und Japaner erfasst hat.“
(Shell shocked face: Einige Überlegungen zur rituellen Funktion des US-amerikanischen Kriegsfilms. In: Verklärte Körper / Nicola Suthor, Erika Fischer-Lichte (Hrsg.). - 1. Auflage. - München: Wilhelm Fink, 2006. - S.85f.)

Das Nachkriegskino und die Frage der Gemeinschaft

Die Frage der Gemeinschaft – ob und worin sich eine Einheit der Gesellschaft gründen lässt und wie das gemeinsame Leben zu verstehen und zu bewältigen ist – prägte die Kinematografien der westeuropäischen Staaten nach dem zweiten Weltkrieg. Film als kulturelle Praxis (im Sinne Rancières) prägte unterschiedliche ästhetische Strategien und poetologische Formen aus, um diese Frage im Neorealismus, im Trümmerfilm oder im französischen Nachkriegskino je spezifisch zu verhandeln. Doch es gilt, die etablierten filmhistorischen 'Wahrheiten' vom geglückten Neorealismus und dem gescheiterten Trümmerfilm oder dem ästhetisch aufgeklärten Autorenfilm im Gegensatz zum vermeintlich rückschrittlichen Genrekino zu hinterfragen: Was waren Ausmaß und Grenzen der Demokratisierung der Wahrnehmung nach 1945?

Literaturverweis:
Die Frage der Gemeinschaft. Das westeuropäische Kino nach 1945. Hrsg. von Hermann Kappelhoff und Anja Streiter

Demokratisierung der Wahrnehmung? Das westeuropäische Nachkriegskino. Hrsg. von Hermann Kappelhoff, Bernhard Groß, Daniel Illger

Die Politik des Ästhetischen im westeuropäischen Kino

Das Projekt Die Politik des Ästhetischen im westeuropäischen Kino (Leitung: Hermann Kappelhoff) ist am Sonderforschungsbereich 626 "Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzug der Künste" an der Freien Universität Berlin angesiedelt. Zentrale Fragen des Projekts sind: Wie kann das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Politik (mit Ranciére) anhand von westeuropäischen Nachkriegsfilmen begriffen werden? Wie sprechen Affektpoetiken den Zuschauer als Individuum an, das an gemeinschaftlichem Leben teilnimmt? Konstituieren unterschiedliche Affektpoetiken unterschiedliche Genres? Und bilden Genres untereinander so etwas wie ein affektpoetisches System aus? Und wie macht das Genrekino Urteilsprozesse (im Sinne Hannah Arendts) erfahrbar?

Dazu fokussierte sich die Projektarbeit zunächst auf das Autorenkino der Nachkriegszeit, bevor es sich in seiner zweiten Förderperiode (2011-2014) dem Genrekino als zweiter Dominante des Nachkriegskinos zuwendet.