Forschungsschwerpunkt: Digitales Material und essayistische Methode
Eine grundlegende These der Arbeit von Cinepoetics ist, dass die Medien und die materiellen Figurationen der Wahrnehmung die Bedingungen des Denkens, Verstehens und Urteilens dynamisch verändern. In diesem Semester wollen wir diese These auf die Reflexion des wissenschaftlichen, kritischen und künstlerischen Zugriffs auf audiovisuelle Bilder beziehen. In Anlehnung an unsere Forschung zu Sergei Eisenstein geht es uns auch hier darum, unter dem Stichwort "Material" die Transformationsbewegungen zwischen physischer Wirklichkeit, Medialität und ästhetischer Wahrnehmung zu untersuchen sowie mit dem Begriff "Methode" die vielfältigen poetischen Verfahren, kulturellen Aneignungsprozesse aber auch wissenschaftlichen Praktiken zu fassen.
Nicht erst durch die aktuellen Erfahrungen des Forschens und Lehrens unter Pandemiebedingungen ist damit die immer drängendere Frage nach den digitalen Methoden film- und medienwissenschaftlichen Arbeitens gemeint. Hier geht es darum, die multiplen Transfers zu bedenken, die sich ganz konkret in den materiellen Übergängen und Rekodierungen von Untersuchungsgegenständen und primären Werkzeuge ereignen. Vor allem aber geht es um eine Auseinandersetzung mit den Hypothesen und Methoden, die aus der theoretischen Ausarbeitung einer "Poiesis des Filme-Sehens" hervorgehen. Wie lassen sich diese sinnvoll in Tools und Plattformen implementieren, ohne dass Potentiale des Digitalen ungenutzt bleiben, aber auch ohne dass sich verselbstständigende Ansprüche des Digitalen die Zielsetzungen historischer, hermeneutischer und phänomenologischer Methoden unterlaufen? Was leisten Annotations-Tools, automatische Detektoren und Datenbanken wenn man Prozesse des Erfahrens, Verstehens und filmischen Denkens in den Fokus setzt? Wie verändern sie unser analytisches und historisches Arbeiten? Wie interagieren digitale Methoden mit der geisteswissenschaftlichen Begriffsarbeit? Welche neuen Formen der Vernetzung und Verbreitung von Wissen sind denkbar?
Ein weiteres Diskussionsfeld eröffnet sich durch die Auseinandersetzung mit dem audiovisuellen Essay – und damit mit einer spezifischen Arbeits- und Darstellungsform des audiovisuellen Bildes, die ihre gegenwärtige Hochkonjunktur nicht zuletzt der digitalen Verfügungsmöglichkeit audiovisueller Gegenstände verdankt. Um diesen Zusammenhang von Digitalisierung und Essayismus genauer in den Blick zu bekommen, bietet sich indes eine historisierende Perspektive an, die nach den Poetiken des Umgangs von audiovisuellen Medien mit anderen Bildern und Tönen fragt. Wie findet hier beispielsweise eine subjektive, wenn nicht sogar autobiografische Erfahrungsperspektive Eingang in eine analytische Praxis, die wiederum andere Subjektivitäten verhandelt und hervorbringt? Dabei wollen wir auch die Diskussionen zu verschiedenen Textformen des historischen und autobiografischen Arbeitens wieder aufnehmen und die Rückwirkungen der poetischen Verfahren des audiovisuellen Essays auf die Entwicklung anderer Schreibweisen erkunden. Eine medienarchäologische Herangehensweise, die nicht nur die Gegenwart, sondern auch die diversen Fernseh- und Videoarbeiten seit den 1960ern in den Blick nimmt, kann sowohl die Kontinuitäten innerhalb der audiovisuellen Essayistik aufzeigen, die sich in dem materiellen Umbruch Analog/Digital verstecken, als auch ein Spektrum unterschiedlicher Aneignungsprozesse. Damit sollen die Methoden des poetischen Machens von Filmen, die sich an dem Material anderer Filme abarbeiten, auf eine medientheoretisch und historisch fundierte Basis gestellt werden.
Wir werden diese Fragen angesichts der weiterhin widrigen Bedingungen des Pandemiezustandes in konzentrierten Kleingruppen-Arbeitsphasen verfolgen, zu denen wir ausgewiesene Expert*innen eingeladen haben, und die Ergebnisse in digitalen Workshops präsentieren, reflektieren und vertiefen.