Forschungsschwerpunkt: Jenseits des Zuschauens
Eine der zentralen Ausgangspunkte von Cinepoetics ist, dass die Aktivität von Zuschauenden deutlich mehr umfasst, als Narrative zu verstehen, Stile zu erkennen, Hinweisen zu folgen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Stattdessen muss sie als Akt der Aneignung verstanden werden, welcher die Herstellung von zeitlich-räumlichen Logiken umfasst - was wiederum als Grundlage für den Prozess einer poetologischen Sinnzuschreibung auf Zuschauerseite dient. Wir schreiben diese Herstellung, d.h. die Poiesis des Filme-Sehens, sowohl kognitiven Schemata als auch spezifischen Modalitäten des Fühlens und Denkens in der Interaktion zwischen audiovisuellen Bildern und der verkörperten Aktivität des Sehens und Hörens zu. Wir sehen eine enge Verbindung dieser Schemata und Modalitäten zu Effekten der Subjektivierung: beides lässt sich nur in einer historisch formierten Perspektive erfassen.
In diesem Semester erkunden wir diese Idee einer kreativen Zuschauerschaft vor dem Hintergrund einer spezifischen Konstellation innerhalb der Kulturgeschichte sowie verschiedenen Variationen der Medialität audiovisueller Bilder. Wie verhält sich das Konzept der Aneignung von filmischen Bildern, das die Poiesis des Filme-Sehens suggeriert, zu anderen Konzepten der Aneignung, etwa in sozioökonomischen, kulturwissenschaftlichen oder postkolonialen Kontexten? Wie gestalten sich Fragen der Hegemonialität und Marginalität in aktuellen kritischen Diskursen auf Ebene der konkreten verkörperten Zuschauerschaft? Wie binden wir die Poiesis des Filme-Sehens an verschiedene kulturelle Diskurse über Film? Oder im Hinblick auf verschiedene Medialitäten von Bewegungsbildern: Wie erschließen wir die nicht zu leugnende Bewegungsqualität von Comics - sowohl innerhalb einzelner Bilder wie auch zwischen Panels -, was ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede zu audiovisuellen Bildern betrifft? Welche Einsichten ergeben sich aus der Untersuchung von interaktiven audiovisuellen Medien betreffs Subjektivität, Aneignung und Bildlichkeit?
Ein wichtiges Fallbeispiel zur Erprobung dieser Fragen und Hypothesen widmet sich der ästhetischen Erfahrung und Poetiken von Videospielen. Im Feld der Game Studies, das sich meist mit spielmechanischen Aspekten oder narrativen Strukturen auseinandersetzt, spielt die dezidierte Audiovisualität von Videospielen kaum eine Rolle. Aus einer filmwissenschaftlichen Perspektive jedoch bietet die Verschiebung von einer verkörperten Aktivität hin zum Akt des Spielens - also einer direkten Beeinflussung des audiovisuellen Bildraums - das Potenzial, jene kreative Aneignung beobachtbar zu machen. Daran binden sich weiterhin neue theoretische Einblicke in den Prozess des poietischen Machens auf Seite der Zuschauenden.
Durch einen Fokus auf jene Schwellenbereiche, jene Zonen der Ununterscheidbarkeit, erhoffen wir uns tiefere Erkenntnisse zur Interaktion verkörperter Zuschauer mit audiovisuellen Bildern sowie zur Verbindung zwischen diesen und anderen Medienformaten und -technologien.