Forschungsschwerpunkt: Material und Methode
Das Studienjahr 2017/18 widmeten wir primär der geschichtstheoretisch fundierten Beschäftigung damit, wie sich ein Denken filmischer Bilder als ästhetischer Modus historischer Erfahrung in der Moderne herausgebildet hat. Dies setzen wir im Wintersemester 2018/19 mit einer Neufokussierung des europäischen Avantgarde-Diskurses der 1920er Jahre fort. Im Zentrum dieser Fokussierung steht die Theorie und Praxis Sergej M. Eisensteins – und damit ein filmpoetologisches Denken, das für die Arbeit von Cinepoetics von Beginn an von wegweisender Bedeutung ist.
Eisenstein gilt gemeinhin als führender Protagonist des sowjetischen Montagekinos. Seine Filmtheorie und -praxis geht von der Überzeugung aus, dass Film mit dessen genuinem Ausdrucksmittel der Montage gleichzusetzen sei. Daher würde Film insofern Bedeutung erzeugen, als sich aus der Kollision zweier Einstellungen ein dritter Sinn herstelle, der mehr ist als die Summe seiner Teile. Für Eisenstein ist eine solch affektive und intellektuelle Zentrifugalkraft der Montage jedoch keinesfalls gleichbedeutend mit einer Entwertung der Bildinhalte als Reizmaterial, das lediglich miteinander verschaltet wird. Vielmehr besteht zwischen den in den Bildern inszenierten Figuren und Gegenständen und den Formen ihrer Zusammenfügung eine komplexe ästhetische Dialektik, an der sich das Denken und Schaffen Eisensteins immer wieder aufs Neue entzündet hat.
Im Sinne einer solchen dialektischen Korrelationsbewegung hat Eisenstein in seinem Text "Über das Spiel der Gegenstände" (1925) mit Bezug auf Panzerkreuzer Potemkin sein Vorhaben skizziert, die Aufgabe der Emotionalisierung des Publikums vom Schauspieler auf "unbelebte Gegenstände" zu übertragen. Auf diese Weise sei zu einem "Spiel der Gegenstände" und damit zu einem "rein filmischen Verfahren" zu gelangen, wie es "dem über ein Spiel mit Gegenständen nicht hinausgehenden Theater nicht zugänglich ist". Von einem "Enthusiasmus für Gegenstände" um ihrer selbst willen lässt sich so ein Schritt hin zur filmischen Rhythmisierung und Modellierung des Gegenständlichen als "Attraktionsmaterial" zum Zweck der Affekterzeugung machen.
Mit unserem Semesterthema "Material und Methode" schließen wir an die Überlegungen Eisensteins an. In unseren Colloquien werden wir mit Texten und Filmen von Eisenstein und anderen Protagonisten des Avantgardekinos der 1920er Jahre die exemplarische historische und theoretische Positionsbestimmung eines Diskurses vornehmen, der am Film die Möglichkeiten eines "sinnlichen Denkens" festgemacht hat. "Material" meint in diesem Kontext die Transformationsbewegung von Bestandteilen der äußeren Welt (Fakten, Dinge) in ästhetische Wahrnehmungseinheiten (Attraktionen) und Kompositionsformen. Der Begriff der "Methode" wiederum zielt über poetische Verfahren (wie die Montage) und kulturelle Aneignungstaktiken (wie das Zitat) auf die poetologischen Prinzipien dieser Transformation als Ausdruck eines Denkens, das zugleich sinnlich und reflexiv ist.
Mit der Schwerpunktsetzung auf Eisenstein, und indem wir die konzeptionellen Spannbreite von "Material" und "Methode" als Begriffspaar engführen, ist es unser Ziel, zentrale Erkenntnisinteressen unserer Kolleg-Forschungsgruppe – so etwa die theoretische Präzisierung einer "Poiesis des Filme-Sehens" und einer "Hermeneutik des poetischen Machens" – durch das historische Prisma einer Fallstudie zu bündeln.
Neben ausgewiesenen Eisenstein-Experten und Expertinnen wie Naum Kleiman, Karla Oehler und Yuri Tsivian sind in diesem Semester u.a. die Filmemacherin Tatiana Brandrup, der Filmhistoriker Michael Cowan und der Philosoph und Medientheoretiker D.N. Rodowick als Fellows am Kolleg zu Gast. Im Rahmen des Schwerpunktthemas findet Ende November in Potsdam mit weiteren Vertretern und Vertreterinnen der internationalen Eisenstein-Forschung ein Workshop zum Thema "Eisenstein and the Play of Objects" statt. Diese Veranstaltung ist zusammen mit Naum Kleiman zum Abschluss des Eisenstein-Jahres 2018 konzipiert und wird von Cinepoetics gemeinsam mit dem Brandenburgischen Zentrum für Medienwissenschaften (ZeM) ausgerichtet.