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Genre und Gefühle: Pathosszene und Affektdramaturgie

Um (historische) Dynamiken von Genres nachzuzeichnen, entstand das Konzept der Pathosszenen. Sie bezeichnen genrespezifische Standard-Szenen, die im Rahmen der Film-Segmentierung im  eMAEX-Ansatz auf der Mesoebene identifiziert und denen je bestimmte affektive Qualitäten zugeordnet werden können. In ihrer Anordnung über den Verlauf eines Films hinweg bilden die Pathosszenen je unterschiedliche Affektdramaturgien aus (Makroebene), deren historische Transformationen präzise beschreibbar werden. Das Konzept wurde am Gegenstand des US-amerikanischen Kriegsfilms entwickelt und für ein Forschungsprojekt zum deutsch-türkischen Kino adaptiert, das ebenfalls eine korpusspezifische Taxonomie von Pathosszenen erstellt hat.

Affektmobilisierung im Kriegsfilm

In zwei Forschungsprojekten zur Affektmobilisierung im US-amerikanischen Kriegsfilm wurde der eMAEX-Ansatz entwickelt und darauf aufbauend eine umfangreiche Datenmatrix als Grundlage für vergleichende historische Studien des Kriegsfilmgenres erstellt.

Projekt "Affektmobilisierung und mediale Kriegsinszenierung"
(Exzellenzcluster Languages of Emotion, 2008–2011)

Das Projekt untersuchte die Strategien affektiver Mobilisierung auf Ebene der Inszenierung audiovisueller Bilder am Beispiel des klassischen Hollywood-Kriegsfilms. Dazu wurde eine Affektpoetik des Genres ausgearbeitet, die acht wiederkehrende inszenatorische Standard-Figurationen umfasst – die Pathosszenen. Diese interagieren im (affekt-)dramaturgischen Aufbau der Filme miteinander, adressieren und formen je kulturell spezifische Gefühlswelten und Gemeinschaftsgefühle.
Projekt "Inszenierungen des Bildes vom Krieg als Medialität des Gemeinschaftserlebens"
(DFG, 2011–2016)

In historischer Perspektive untersuchte das Projekt vergleichend die Affektpoetik des US-amerikanischen Kriegsfilms im Wechselverhältnis zur Kriegsberichterstattung in anderen audiovisuellen Medien. Dazu wurden die inszenatorischen Ausgestaltungen der Pathosszenen und deren affektdramaturgische Anordnungen an Filmbeispielen aus allen Epochen des Genres sowie zeitgenössischen Nachrichtenmedien vergleichend analysiert und als je veränderte, historisch spezifische affektökonomische Bearbeitungen eines medial organisierten Gemeinschaftsempfindens beschrieben.

Datenmatrix Kriegsfilm

Die Datenmatrix umfasst Einträge zu über 33 Spiel- sowie Dokumentarfilmen, TV-Serien und Nachrichtensendungen. Die Filme sind auf zwei Ebenen segmentiert: in Szenen und in einigen Fällen auch auf Mikroebene in Ausdrucksbewegungseinheiten (ABEs). Die mit einem Titel versehenen Szenen sowie die ABEs mit kurzem Beschreibungstext der inszenatorischen Muster sind jeweils als Clips in der multimedialen Darstellung verfügbar.

Den Szenen sind Pathoskategorien zugeordnet, die den acht Pathosszenen der entwickelten Affektpoetik entsprechen und durch narrative Konstellationen, ästhetische Strategien und Affektbereiche definiert sind.

Für jeden Film gibt es ein Diagramm, das dessen Affektdramaturgie grafisch darstellt, also die Anordnung der Pathosszenen im zeitlichen Verlauf als grafisches Muster. 

Deutsch-türkische Gemeinschaftsgefühle

Ein Forschungsprojekt zu Filmen, die man unter dem Begriff des "deutsch-türkischen Kinos" subsumiert, untersuchte diese Filme als zusammenhängenden Diskurs in ihrem Verhältnis zu Prozessen von Gemeinschaftsbildung und fragte danach, welche Funktion die audiovisuellen Bilder in diesen Prozessen erfüllen.

Projekt "Migrantenmelodramen und Einwanderungskomödien: Medienformate deutsch-türkischer Gemeinschaftsgefühle"
(SFB 1171, 2015–2019)

Wie arbeiten Filme, TV-Serien und Webvideos daran, deutsch-türkische Gemeinschaftsgefühle herzustellen und zu modulieren? Die Medienangebote wurden als taktische Aneignungen analysiert – sowohl dominanter Formen westlicher Unterhaltungskultur als auch darüber hinaus – und dabei die affektökonomische Dimension zirkulierender Inszenierungsmuster in den Blick genommen.

In theoretischer Auseinandersetzung wurden die Projektfragen einerseits bearbeitet durch die gemeinsame Diskussion innerhalb eines analytischen Gesprächs mit Filmemacher*innen aus dem untersuchten Feld, andererseits mittels einer vergleichenden Korpusanalyse, in der Pathosszenen des deutsch-türkischen Kinos identifiziert wurden.

Gestützt auf den eMAEX-Ansatz und in Anlehnung an die Arbeiten zum Kriegsfilm wurden audiovisuelle Inszenierungsmuster hinsichtlich spezifischer Affektdomänen (Freude, Trauer, Thrill etc.) taxonomisch qualifiziert. Als Ergebnis konnten fünf Pathoskategorien im Konfliktfeld von Inklusion und Exklusion herausgearbeitet werden: das Eintreten (in das Unbekannte), das Navigieren (harmonisches Eingebundensein in eine bekannte/verkannte Umwelt), das Herausgehobensein (aus einem Miteinander), die Abspaltung (Abgetrennt sein von einem gemeinschaftlich geteilten Kontext) und das Bedrängtsein (von der Umwelt eingeengt sein). Diese Pathoskategorien, die sich in den Pathosszenen mit narrativen Mustern verbinden, wurden sowohl in ihrer konkreten expressiven Gestaltung auf Mikroebene als auch in ihrer dramaturgischen Relevanz auf Makroebene beschrieben. Sie zielen nicht darauf ab, jede Affektdramaturgie innerhalb des heterogenen Korpus umfassend zu erfassen, vielmehr bilden sie spezifische Konfliktlinien der Diskursivität des deutsch-türkischen Kinos.

Weiterführende Lektüre: