Historische Phänomenologie
Nach einer über drei Semester geführten Auseinandersetzung mit den medialen Prämissen und gesellschaftlichen Dynamiken audiovisueller Kulturen richtet sich der Fokus im Wintersemester 2023/24 auf deren historiografische Implikationen. Damit nehmen wir zugleich Diskussionsfäden aus früheren Semestern zu den Themen Filmisches Bild und historische Erfahrung sowie Material und Methode wieder auf. Die Rede von einer historischen Phänomenologie zielt dabei auf die Historizität konkreter Formen des Erscheinens und Wahrnehmens: Inwiefern lässt sich davon sprechen, dass audiovisuelle Bilder die historischen Öffentlichkeiten, in denen sie erscheinen, selbst erst hervorbringen, indem an ihnen ästhetisch konkret wird, was je an gemeinschaftlichen Erfahrungen möglich ist? Welche Relevanz kommt den dispositiven Anordnungen dieser Öffentlichkeiten im Hinblick auf die Unterscheidung von verschiedenen Erfahrungsdomänen zu? Wie lassen sich vor diesem Hintergrund Aneignungsprozesse audiovisueller Kultur(en) in eine historische Perspektive rücken?
Im Anschluss an die Überlegungen der vergangenen Semester gehen wir bei der Sondierung dieser Fragen davon aus, dass die Geschichtlichkeit audiovisueller Bilder weniger in der Repräsentation historischer Sachverhalte zu situieren ist, denn vielmehr in der dynamischen Verzweigung geteilter Wirklichkeitskonzepte und kultureller Gemeinschaftsbildungen. Die spezifische Erfahrungsdimension des Historischen lässt sich deshalb auch nicht auf ein scheinbar gesichertes Wissen um empirisch ermittelbare Kontexte reduzieren. Sie ist, so die Hypothese, im ästhetischen Erfahrungsmodus selbst zu rekonstruieren: als ein gleichermaßen komplexes wie konkretes tiefenzeitliches Bezugsfeld der Bildräume und Zeitformen audiovisueller Bewegungsbilder. Die Geschichtlichkeit audiovisueller Bilder stellt sich in dieser Perspektive als je spezifisch konstituierter Erfahrungsraum dar, in dem verschiedene Zeitmodalitäten audiovisueller Kultur zueinander ins Verhältnis treten und als historische Konfiguration greifbar werden.
Daher gilt das Erkenntnisinteresse auch nicht (nur) dem, was in audiovisuellen Bildern an historischem Quellenwert auffindbar ist und sich zur (politischen, gesellschaftlichen etc.) Geschichte in eine semantische Beziehung setzen lässt. Vielmehr geht es uns um die Frage, wie sich diese Bilder als genealogische Verzweigungen auf eine Geschichte der geteilten Sensibilitäten kultureller Gemeinschaften beziehen lassen. Mit Blick auf diese temporalen Korrelationen ist die Frage nach der Diskursivität filmischer Bilder untrennbar mit einer historischen Phänomenologie audiovisueller Kulturen verbunden.
Vor dem Horizont dieser Fragestellungen setzen wir unterschiedlich gelagerte Arbeitsschwerpunkte:
- die eigene Historizität von Gegenwart (in) der Popkultur
- die phänomenologischen Prozesse (gegen-)archivarischer Praktiken
- die Geschichts- und Medientheorie Siegfried Kracauers
- die mediale Erinnerung an Migrationserfahrung