Audiovisuelle Kulturen III: Digitale Kulturen des Bewegtbildes
In den letzten Jahren scheint der Begriff des Digitalen sein distinktives und erklärendes Potenzial verloren zu haben. Deshalb befinden wir uns, so wurde vielfach argumentiert, im Zeitalter des Postdigitalen. Im Kino sind digitale Bilderwelten mitsamt entsprechender Projektionstechnik längst nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Der Konsum von Bewegtbildern findet zum größten Teil in digitalen Umgebungen statt: über Streaming-Anwendungen und Social Media-Plattformen. Bildschirmmedien wie Kino, TV-Serien oder Videospiele konvergieren in einem Feld der Überlappungen, Gemeinsamkeiten und Interdependenzen, das übliche Zuschreibungen wie auch die Begrifflichkeiten einzelner akademischer Disziplinen sprengt. Je umfassender sich digitale Umgebungen in unseren Alltag einschreiben, umso weniger deutlich wird der Begriff des Digitalen. Für Bilder bedeutet das, sie nicht mehr nur als berechnete elektronische Signale zu verstehen. Vielmehr unterliegen sie zunehmend den Bedingungen algorithmischer Verbreitung und deren Auswirkung auf kulturelle Netzwerke und die posthumanen, neuralen Netzwerke des machine learning.
Allerdings sind die diese Entwicklungen natürlich nicht nur als medientechnologische Entwicklungen zu klassifizieren, sondern als Phänomene und Wegbereiter großflächiger kultureller Verschiebungen. Mit den sogenannten deep fake videos scheint der letzte Schritt einer Entwicklung vollzogen, die noch vage Erinnerungen an theoretische Diskussionen der 1990er um die Indexikalität der Bilder hervorruft: digitale Bilder fordern nicht nur eine vermeintliche Aura der Authentizität des Bewegtbildes heraus, sondern zerstören sie vollends. Gleichzeitig können deep fake videos als Symptom und Richtwert eines grundlegenden Wandels der politischen Kommunikation sowie unserer Vorstellung von Authentizität und Faktizität selbst gelesen werden.
In kaum einem Bereich wird dies so deutlich wie in der Gestaltung sowie den Algorithmen von Social Media-Anwendungen, die in spätkapitalistischen Gesellschaften als Faktoren einer verkürzten Aufmerksamkeitsspanne und eines allgemeinen Eindrucks der Übersättigung durch (Des-)Information gelten können. Wie lässt sich die Relation von kulturell-ästhetischen Fragen und globalen ökonomischen Interessen verstehen, wenn jegliche Aufmerksamkeit registriert wird und wiederum in die Algorithmen zurückläuft, die darauf ausgelegt sind, den Handel mit eben jener Aufmerksamkeit zu optimieren. Wie lässt sich ihr – trotz allem –großes Potenzial im Bereich der kreativen Aneignung und des Aktivismus fassen? Selbst wenn sich die Zirkulation und Verflechtung von Bilddaten zunehmend unabhängig von menschlichen Akteuren vollzieht, lässt sich trotzdem das Argument anführen, dass Bilder nur in der zeitlichen Entfaltung der Wahrnehmung durch verkörperte Zuschauer*innen zu Bildern im eigentlichen Sinne werden. Während die Konvergenz von Bildschirmmedien dem crossmedialen Marketing sowie einer beschleunigten Medienökonomie zugeschrieben werden kann, lässt sich in ihr ebenfalls eine kulturelle Herausforderung der klassischen Unterscheidung von Produktion und Rezeption sehen. Wie bilden sich Korpora zur Erforschung der digitalen (Bild-)Kultur heraus, wenn stündlich mehr potentiell relevantes Material ins Internet geladen wird, als im Rahmen eines menschlichen Lebens gesichtet werden könnte? Wie lässt sich ein Zugang zur spezifischen Logik einer Poiesis des Filme-Sehens formulieren, die sich online, die sich im Weiterleiten, Liken und Remixen usw. entfaltet?
Im Sommersemester 2023 möchten wir die ebengenannten Phänomene unter zwei Maßgaben beleuchten. Zunächst, dass die Aura des Neuen und Revolutionären in Bezug auf Diskurse digitaler Medien – von einer kulturellen Perspektive aus gesehen – schwindet; die schnellen Veränderungen der letzten zweieinhalb Jahrzehnte erfordern gerade einen Rückgriff auf klassische Medientheorie und -philosophie, um die größeren Dynamiken dieses breite und variablen Feldes zu ergründen. Zweitens, dass medientechnologische Perspektiven sowie Fragen der Medienspezifik weniger aussagekräftig für die Untersuchung der gesellschaftlichen Bedeutung digitaler Medien sind, als vielmehr eine genaue Analyse der Praktiken, Poetiken sowie Taktiken des Konsums und der Aneignung – gerade im Hinblick auf die schwindende Dichotomie von digital und analog. Deshalb möchten wir, zusammen mit unseren anerkannten Fellows, eine medienhistorische Perspektive auf digitale audiovisuelle Bilder einnehmen, um zugleich kulturelle Umbrüche zu analysieren, die zwingend mit solchen historischen Entwicklungen zusammenhängen. Dabei heben wir nicht nur die technologischen, diskursiven und ideologischen Debatten hervor, sondern konzentrieren uns ebenfalls auf verkörperte, erfahrungsbezogene Aspekte von audiovisuellen Bildern in digitalen Kulturen.