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Forschungsschwerpunkt: Projektion, Reflexion und Erfahrung

Forschungsschwerpunkt: Projektion, Reflexion und Erfahrung

Forschungsschwerpunkt: Projektion, Reflexion und Erfahrung

Im Wintersemester 2021/22 wollen wir an unsere Diskussionen zu fiktionalen Welten anknüpfen und dabei den Begriff der Projektion genauer in den Blick nehmen. Mit Stanley Cavell gehen wir davon aus, dass damit nicht nur die Technologie des Projizierens flackernder Bilder auf eine Leinwand oder eine Technik der Repräsentation gemeint ist. Vielmehr projizieren filmische Bilder eine Welt, auf die das verkörperte Genießen der Zuschauer*innen bezogen ist, wiewohl (oder gerade weil) diese aus ihr ausgeschlossen sind und sie ihnen verschlossen bleibt. In dieser paradoxen Mischung von Präsenz und Absenz, Aktivität und Passivität erscheint die projizierte Welt unabhängig von uns und realisiert sich doch erst in uns, in der Poiesis des Filme-Sehens (als "world viewed"). Was in dieser Poiesis hergestellt wird, ist die ästhetische und historische Erfahrungsdimension als eine Reflexion der Einheit der Prozesse unserer Wahrnehmung und unserer hermeneutischen, soziokulturell situierten Projektionen. Wir wollen untersuchen, wie diese multiplen Ebenen der Projektion – als geworfenes Bild, als Dauer der Vorführung und soziale Praxis, als entworfene Welt und als Möglichkeitsraum für Wünsche und Begehren, d.h. als spekulative Perspektive anderer Subjektivität – ineinander verschachtelt sind.

Im Anschluss an die Arbeiten unserer im Mai 2021 verstorbenen Kollegin Eileen Rositzka wollen wir weiterhin der Frage nachgehen, wie sich diese Verschachtelung im Verhältnis von Film und Kartografie denken lässt. Wir verstehen darunter eine experimentelle Anordnung, die ihren Ausgang von dem Umstand nimmt, dass man auch im Blick auf die Karte nie dort ist, wo man ist. Karten und filmische Bilder projizieren Räume auf zweidimensionale Bilder, auf dass Kartenleser*innen und Zuschauer*innen diese wieder zu Räumen projizieren. Filmische Weltprojektionen und kartografische Projektionen arbeiten auf je spezifische Weise über das Skalieren von Größenordnungen, sie verdichten und verzerren, statt wiederzugeben. Eben darin sind sie auch Erfahrungs- und Reflexionsformen eines verkörperten Navigierens unserer geteilten Wirklichkeit. Als solche Formen vermögen sie sich gegenseitig zu erhellen – und dabei auch den Begriff der Projektion. So sind Karten immer auch durchzogen von Fragen des Wissens und der Macht (deren bekanntestes Beispiel vielleicht das geopolitische, tief verwurzelte Bias der Mercator-Projektion ist). Sie sind bezogen auf konkrete Körper, die (nicht) wissen, was sie damit machen sollen, und zuweilen selbst Projektionen von Operationen der Sichtbarmachung sind. Insofern haben sie nicht nur eine territoriale, sondern immer auch eine zeitliche Dimension: Wie filmische Weltentwürfe sind auch Kartografien immer eigene Entwürfe vergangener und zukünftiger Zeiten, in denen sich unsere Gegenwart reflektiert. Ihre Projektionen können gezielt die Grenzen des Gemeinsinns sowie Erfahrungen der Differenz zu hegemonialen Wahrnehmungs- und Denkweisen zur Geltung bringen.

 

Entsprechend ist jede Projektion ein Gegenentwurf, eine virtuelle Zurückweisung eines mit sich selbst identischen Ist-Zustands, und enthält in sich immer auch das Potential ihrer eigenen Gegenprojektion: Utopie und Dystopie, Hegemonie und Widerstand. Zugleich werfen die multiplen Ebenen einer nicht exklusiv technologisch gedachten Projektion wie auch das Verhältnis der filmischen und kartografischen Projektionen die Frage der Medienkonvergenz und -divergenz auf. Wenn Ersteres auf den Prozess einer fortlaufenden Reflexion vorgängiger Audiovisualität verweist, stellt Letzteres die Frage einer sich verzweigenden Pluralität von Projektionen. An dieser Schnittstelle zwischen Historizität und Medialität – die auch die Beziehung von Selbst und Gemeinschaft betrifft – zeichnet sich die Möglichkeit und Aufgabe ab, die unterschiedlichen medialen Praktiken der Poiesis des Filme-Sehens als Prinzip einer genuin audiovisuellen Kultur zu bestimmen. Im kommenden Semester soll diese Bestimmung und mit ihr der Begriff einer solchen Kultur ins Zentrum unserer Arbeit rücken.