Kolleg-Forschungsgruppe Cinepoetics
Freie Universität Berlin/ Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2015–2024
Egal ob im Historienfilm, den abendlichen Fernsehnachrichten oder dem verwackelten Youtube-Video aus dem Krisengebiet – filmische Bilder handeln nicht nur von historisch, kulturell oder politisch relevanten Sachverhalten. Vielmehr sind die Bilder selbst Teil eines öffentlichen Diskurses, in dem Gegenstände geteilter Erinnerung ebenso wie Haltungen zu Fragen der Kultur, Politik und Gemeinschaft fortlaufend moduliert werden. Umso bedeutender ist es, nicht allein das zu untersuchen, was die Bilder zeigen, sondern die – ästhetischen wie poetischen – Formen in den Blick zu nehmen, derer sie sich dabei bedienen. Wie aber lassen sich filmische Bilder als Diskurs analysieren, bewerten und in Diskurse einordnen, wenn sie nicht als Repräsentationen begriffen werden, sondern als technische Modellierungen der Wahrnehmung? Inwiefern verändert sich der wissenschaftliche Blick auf die historische, kulturelle und politische Dimension des Films, wenn man diesen nicht als repräsentierendes Dokument öffentlicher Diskurse betrachtet, sondern als Medium eines eigenständigen, in Bildern und Tönen geführten Diskurses? Die Kolleg-Forschergruppe (KFG) „Cinepoetics – Poetologien audiovisueller Bilder“ möchte diese Fragen beantworten und eine entsprechende Methodologie der Analyse filmischer Diskurse entwickeln.
Grundannahmen
Die Grundlegende Hypothese der Forschung am Kolleg besagt, dass filmische Bilder nicht gleichzusetzen sind mit dem Artefakt des audiovisuellen Bildes. Dieses materielle Artefakt realisiert sich vielmehr erst im Akt des Filme-Sehens als filmisches Bild. Filmische Bilder werden folglich im doppelten Sinne hergestellt: Als ein kreativer Akt des Filme-Machens bzw. als Wahrnehmungsakt des Filme-Sehens. In diesem Sinne sprechen wir von der Poiesis des Filme-Machens und des Filme-Sehens. Das komplexe diskursive ineinander von Hervorbringung, Aneignung und gegenseitiger Bezugnahme filmischer Bilder versuchen wir aus dieser Perspektive als Agens einer Poetik audiovisueller Bilder fruchtbar zu machen.
Zentral ist vor diesem Hintergrund die These, dass filmische Bilder die raum-zeitlichen Parameter und Schemata der Wahrnehmung nicht abbilden, spiegeln oder ähnliches; sie modellieren diese Parameter und Schemata vielmehr – und schaffen so neue Rahmungen kognitiver und semiotischer Prozesse. Ein solches Verständnis filmischer Bilder ist untrennbar mit der Idee einer Poiesis des Films verbunden; bezeichnet doch der Begriff der Poiesis für uns ein poetisches Machen, das – in Gestalt filmischer Bilder – neue Räume der Wahrnehmung hervorbringt, mit denen die ästhetischen, semiotischen und pragmatischen Koordinaten der Sinnkonstruktion neu figuriert werden. Somit ist es in letzter Konsequenz – so eine weitere Grundannahme der KFG – nicht die Filmproduktion per se, sondern vielmehr die Poiesis des Filme-Sehens, die den Diskurs filmischer Bilder als ein sozial, kulturell und historisch situiertes 'Denken des Films' hervorbringt. Diese Poiesis des Filme-Sehens lässt sich als eine Verkörperung der in den filmischen Bildern vorgegebenen Bedeutungskonstruktionen, Affektskripte und perzeptiven Schemata in einem konkreten Erleben verstehen – dessen Effekte wiederum in Filmen, Texten wie Bildern fortwirken und dort beobachtbar werden.
Fragen
Die zentrale Frage des Kollegs erwächst aus der Herausforderung, die hier skizzierten theoretischen Grundannahmen im Feld der Analyse filmischer Bilder und Diskurse methodologisch umzusetzen. Konkret: Wie lassen sich Filme und audiovisuelle Bilder analysieren, wenn wir sie nicht als Produkte der Unterhaltungsindustrie oder des Kunstbetriebs verstehen, sondern als Zeugnisse einer Poiesis des Filme-Sehens? Wenn wir sie nicht in die sozio-ökonomischen, medien- und kulturgeschichtlichen, regelpoetischen Kontexte ihrer Herstellung rücken, sondern anderen Filmen, theoretischen Entwürfen, poetischen Konzepten etc. zuordnen, in denen sich die Effekte einer historisch, kulturell und sozial situierten ‚Taktik des Bildkonsums‘ (de Certeau) niederschlagen? Kurz: Wie lassen sich audiovisuelle Bilder als Abdrücke einer umfassenden Poiesis filmischer Bilder lesen, die fortwährend Formen eines filmischen Denkens hervorbringt, aufgreift und strukturiert?
Ziele
Ziel der KFG ist es a.) eine Theorie des filmischen Bildes am Begriff der Poiesis des Filme-Sehens zu entwickeln sowie b.) auf dieser Grundlage eine Methodologie der Analyse filmischer Diskurse zu entwickeln, mit der c.) die Geschichte audiovisueller Bewegungsbilder als Geschichte der Hervorbringung immer neuer Logiken eines Denkens in variablen Raum-Zeitschemata, d.h. als Poetologie eines Denkens in filmischen Bildern, rekonstruiert werden kann.
Erst ein solches Verständnis der (Film-)Geschichte – als immer neu ansetzende Refiguration der Wahrnehmungsräume einer Poiesis des Filme-Sehens – eröffnet für uns den Blick auf den Diskurs filmischer Bilder als Poetik filmischen Denkens. Eben dieser Diskurs soll am Kolleg konzeptualisiert und in exemplarischen Studien rekonstruiert werden. Der Begriff der Poetologie weist für uns also nicht – wie in klassischen Regelpoetiken und Genretheorien – auf Taxonomien und Konventionen des Kinos, sondern vielmehr auf die historischen und kulturellen Verzweigungen der Poiesis des Filme-Sehens – und ebnet damit den Weg, die Geschichte audiovisueller Beschreibungen und Neubeschreibungen einer gemeinsamen Welt in höchst disparaten und heterogenen Medienkonsum- und Geschmacksgemeinschaften zu erforschen.
Sprecher
Prof. Dr. Hermann Kappelhoff (Freie Universität Berlin)
Prof. Dr. Michael Wedel (Filmuniversität Babelsberg "Konrad Wolf")